26. Kapitel
Hör auf, die beiden so anzustarren«, ermahnte Cem Adam und nahm ein Glas Whisky vom Tablett eines vorbeisegelnden Kellners.
Adam hob finster sein eigenes Glas an die Lippen und überflog den Raum. Der riesige Ballsaal, an dessen hoher Decke vier funkelnde Kristalllüster hingen, war voller Männer in Smokings und Frauen in herrlichen Ballkleidern. Weiße Handschuhe und alle Arten von Masken waren zu sehen. Der Anblick erinnerte Adam an eine längst vergangene Zeit, als Männer noch Hüte und Frauen noch Korsetts trugen. An eine Zeit, in der man sich regelmäßig so fein herausgeputzt hatte.
Er hatte die Viktorianische Ära nie vermisst - bis jetzt.
In diesem Moment nämlich wünschte er sie sich inbrünstig zurück. Dann hätte er nämlich diesem Schurken, der lüstern über Leas Handrücken gebeugt stand, eins auf die Nase geben können.
Teufel, seine Ehre hätte es von ihm verlangt!
»Vor hundert Jahren hättest du mir geholfen, den Mistkerl vor die Türe zu setzen.«
Cem zog eine Augenbraue hoch. »Vor hundert Jahren hättest du noch nicht den liebeskranken Trottel gespielt.«
Sein Blick glitt zu Lea, um die sich eine wachsende Schar von Bewunderern drängte. »Genau das wollten wir doch, oder?«
Adam schnaubte. »Was wir wollen, ist, dass die Beschützer des Lichts die Ampullen wieder rausrücken und sich ergeben, aber das ist unwahrscheinlich.«
Das Streichquartett, das eine kleine Pause eingelegt hatte, begann wieder zu spielen. Wirklich gute Musiker, dachte Adam zerstreut und versuchte weiter, die Gedanken von Leas Bewunderern zu lesen.
Fotograf X eine Frau? Unmöglich!
Dieses Kleid ist ja praktisch durchsichtig!
Gott, wenn die doch endlich Platz machen würden. Ich möchte wissen, wo sie Liams Toys aufgenommen hat. Robert wird Augen machen, wenn er erfährt, dass ich Fotograf X kennen gelernt habe!
Diese festen kleinen Brüste, was würde ich nicht...
Aus diesem Hirn sprang Adam sofort wieder raus. Sein Wangenmuskel zuckte wie verrückt, während er versuchte, die Beherrschung wiederzuerlangen.
»Ich dreh diesem Rotbärtigen noch den Hals um!«
Cem hob seine Maske, um besser sehen zu können, wen Adam meinte. Es fiel ihm nicht schwer, den rotbärtigen Hünen unter Leas Belagerern ausfindig zu machen. »Du kannst doch die Leute nicht für das umbringen, was sie denken, Adam«, sagte er sachlich.
»Klar kann ich«, brummte Adam. Ihm fiel auf, dass Lea auf einmal sehr angespannt wirkte. »Schau sie an! Vielleicht hat sie Angst. Cem, das war eine dumme Idee, wir...«
»Vielleicht braucht sie bloß mal eine Atempause. Sie hat ja seit ihrer Ankunft keine ruhige Minute gehabt. Vielleicht solltest du hingehen und sie ein bisschen aufmuntern.«
Das ließ sich Adam nicht zweimal sagen. Tatsächlich hatte Cem seinen Vorschlag in die leere Luft hinein gemacht. Schmunzelnd schaute er seinem Freund nach.
Adam ging zu Lea hinüber. Es fiel ihm schon unter normalen Umständen schwer, sich von ihr fernzuhalten, und jetzt natürlich noch ungleich schwerer. Aber das mussten sie, um Leas Feinde aus der Reserve zu locken. Doch wie Cem gesagt hatte, eine kleine Pause braucht jeder mal.
Vorsichtig näherte er sich der Gruppe. Er trug zwar eine schwarze Maske, die Augen und Nase verbarg, trotzdem war es nicht unmöglich, dass einer der Killer, die in Cems Haus eingedrungen waren, ihn erkannte. Er würde einfach nur rasch schauen, wie es ihr ging, und sich dann wieder ans Gedankenlesen machen. Er verzog das Gesicht.
»Kommen Sie, kommen Sie, meine Herren, darum geht es doch wohl nicht! Beauvoirs sexuelle Neigungen hatten doch nichts mit ihrem Verstand zu tun. Selbst ihr bester Freund, Jean Paul Sartre, hat behauptet, sie sei unfähig, an einer ernsthaften intellektuellen Debatte teilzunehmen, weil sie eine Frau sei und Frauen nun mal langsamer denken als Männer. Aber die Wahrheit ist: Er hat sich bedroht gefühlt von ihrem Intellekt! Von der Vorstellung, eine Frau könnte klüger sein als er.«
Adams Besorgnis verflog. Sie hatte keine Angst - im Gegenteil. Mit wachsender Belustigung hörte er zu, wie Lea es einer Gruppe steifer Universitätsprofessoren so richtig zeigte. Er hatte keine Ahnung, mit welchen Äußerungen sie sich Leas Zorn zugezogen hatten, aber sie war ganz offensichtlich noch lange nicht fertig mit ihnen.
»Also, meine Herren, dann möchte ich Sie doch mal Fol-gendes fragen: Wenn die Schwäche der Frauen für Männer tatsächlich einen Einfluss auf ihre intellektuellen Fähigkeiten haben sollte, wieso folgen dann so viele von den intelligentesten Männern unserer Zeit dem Beispiel der Frauen und lieben Männer?«
Zwei Frauen, die mitgehört hatten, lachten anerkennend. Die Uniprofessoren öffneten und schlossen die Münder wie Karpfen im Teich.
Lea stemmte eine Hand in die Hüfte was Adams Aufmerksamkeit wieder auf das unselige Kleid lenkte. Er verfluchte die Verkäuferin, die ihm das angedreht hatte!
»Und, wo bleibt nun der flinke männliche Verstand?«, fragte Lea zuckersüß.
Adam nahm dies als sein Stichwort und drängte sich zu Lea durch. »Die Dame hat mir diesen Tanz versprochen«, verkündete er, nahm Lea kurzerhand beim Ellbogen und führte sie auf die Tanzfläche.
»Was soll das?«, fragte sie empört. »Musst du schon wieder den Retter spielen? Das war doch gar nicht nötig!«
»Dich vielleicht nicht, aber die armen Professoren hatten Hilfe nötig«, sagte Adam leise. »Was haben sie denn gesagt, dass du dich so aufregst?«
Lea ließ seufzend die angespannten Schultern sinken.
Adam spürte, wie ihr Rücken unter seinen Fingern etwas von seiner Steifigkeit verlor. Das Gefühl ihrer nackten Haut war berauschend, aber er durfte sich jetzt nicht ablenken lassen ...
»Ach, manche von diesen Akademikern bringen mich auf die Palme! Ich kenne sie gut. Die können derart überheblich sein!«
Musste sie so schön sein, wenn sie sich aufregte? Adam atmete den Duft ihrer erhitzten Haut ein. Kein Wunder, dass sie keine Zeit hatte, Angst vor Killern zu haben, wenn es galt, das ganze weibliche Geschlecht zu verteidigen.
»Ich meine, diese Männer gelten als die geistige Elite unserer Gesellschaft. Dabei sind sie Frauen gegenüber so engstirnig und verbohrt!«
Adam konnte ihr Gesicht kaum aus den Augen lassen, während sie übers Tanzparkett glitten. Wie kam es nur, dass alles andere unwichtig wurde, wenn sie bei ihm war?
»Komm mit mir«, sagte er plötzlich.
Lea schaute verblüfft zu ihm auf. Ihre Wut war verflogen. »Was?«
»Wenn das hier alles vorbei ist, lass uns zusammen irgendwo hinfahren. Wir mieten uns eine Villa am Mittelmeer. Oder ein Chalet in den Alpen. Was immer du möchtest. Ich will dich, Lea. Ich will mir noch mehr Zeit mit dir nehmen.«
Zwischen ihren Brauen erschien eine steile Falte.
»Du willst dir noch mehr Zeit mit mir nehmen?«, wiederholte sie.
Verdammt, so hatte er das nicht gemeint. Er war doch sonst nicht so ungeschickt bei Frauen! Aber Lea brachte ihn völlig durcheinander, er konnte kaum noch richtig denken.
»Ich möchte mich um dich kümmern, Lea«, gestand er.
»Ich kann mich um mich selbst kümmern. Ich brauche keinen Beschützer.«
»Ach ja? Das merkt man.«
Lea versuchte sich von ihm loszureißen, aber er hielt sie fest.
»Lass mich sofort los!«
Wie war das passiert? Wie hatte er das so vermasseln können? Einen Menschen zu lieben brachte ihn vollkommen aus dem Gleichgewicht. Wenn er sich doch bloß wieder im Griff hätte.
Sie zu lieben? Adam blinzelte, als hätte er einen Schlag über den Schädel erhalten, während er auf die Frau herabsah, die er liebte, und versuchte, die richtigen Worte zu finden.
»So geht das nicht.«
Lea hörte auf sich zu wehren. Steif stand sie vor ihm am Rande der Tanzfläche, als die Musik endete.
»Du hast recht«, sagte Lea, »so geht das nicht. Aber Helenas Gedächtnislöscher werden alles wieder in Ordnung bringen. Dann kann ich dich endlich vergessen, und du kannst mich vergessen, und wir können jeder wieder so weiterleben wie früher.«
Adam hatte das Gefühl, als habe er einen Schlag in den Magen bekommen. Er wandte den Blick ab, holte tief Luft, aber das machte es auch nicht besser. »Ist es das, was du willst?«
Lea schaute zu ihm auf. War das Mitleid in ihren Augen?
Gott, was war er nur für ein Idiot!
»Adam, ich ...«
»Adam!« Helena war zu ihnen getreten. Ihr finsterer Gesichtsausdruck war selbst hinter ihrer goldenen Maske erkennbar. »Ihr fallt schon auf! Ihr solltet euch nicht länger miteinander aufhalten.«
Ja, genau das sollten sie, dachte Adam. Aber sie jetzt schon loslassen? Das war zu viel, das schaffte er nicht. Er hatte Zweifel, ob es ihm gelingen würde, Lea Donavan je zu vergessen. Mit einem knappen Nicken ließ er die beiden stehen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Helena, während sie Adam nachblickte.
War sie in Ordnung? Nein, natürlich nicht, aber bald würde sie es sein.
»Wann kann ich aus dem Vertrag aussteigen?«, erkundigte sie sich.
Helena seufzte. »Sobald wir die Kerle haben, die hinter dir her sind. Weißt du, ich hatte zu hoffen angefangen, dass es vielleicht gar nicht nötig sein wird, aber ich kann dir nicht vorwerfen, dass du dein altes Leben wiederhaben willst.«
Helena hatte also alles mit angehört? Oder zumindest den letzten Teil? Nun, es war egal. Lea tat das Herz so weh, ihr saß ein so großer Kloß im Hals, dass sie an nichts anderes denken konnte.
»Ich will alles vergessen«, sagte sie schlicht.
»Und das sollst du«, versprach Helena. »Aber fürs Erste musst du dich wieder unter die Leute mischen, und ich muss auf Schurkenjagd gehen. Darf ich dich so stehen lassen? Bist du in Ordnung?«
»Na klar.« Lea lächelte Helena zuliebe. Die Vampirfrau war ihr in den wenigen Tagen, seit sie sich kannten, ans Herz gewachsen. Sie würde ihr fehlen.
Mit einem knappen Nicken, ganz wie ihr Bruder, verabschiedete sie sich.
Lea, die nun ganz allein am Rand der Tanzfläche stand, schaute sich nervös um. Was jetzt? Viele Augenpaare waren auf sie gerichtet. Das war so ungewohnt. Natürlich waren die Leute neugierig auf die mysteriöse Fotografin X, sie konnte es ihnen nicht verdenken. Aber die ganze Aufmerksamkeit war ihr einfach unheimlich.
Sie führte sich das Bild vor Augen, das sich einem Betrachter bieten musste: Einsame Frau in schwarzem Strasskleid steht nervös ein wenig abseits. Glückliche Paare drehen sich im Schein funkelnder Kronleuchter auf der Tanzfläche.
Jenseits dieser kleinen Welt aus Musik und Tanz die Menge.
Maskierte Augenpaare, die durchdringend auf die einsame Frau gerichtet sind.
Wenn sie das fotografiert hätte, dann hätte sie die Masken hervorgehoben, den Rest der Gestalten unfokussiert gelassen.
»Lea?«
Lea sträubten sich die Nackenhaare. Diese Stimme kannte sie. Bitte nicht. Nicht ausgerechnet hier. Langsam, mit einem Rauschen in den Ohren, wandte sie sich um.
»Dachte ich's mir doch, dass du es bist!«
David strahlte sie auf seine typische Weise an. Sie kannte diesen Ausdruck, er bedeutete, dass er seinen Charme spielen ließ, weil er etwas wollte. Ihr wurde ganz schlecht, als sie dieses Grinsen sah. Er nahm seine Maske ab, als fürchte er, sie habe ihn noch nicht erkannt.
»Wie geht's dir denn so?«
Leas Magen krampfte sich zusammen. Ihre Finger waren eiskalt geworden. Tauchte einfach so auf nach all den Jahren und tat, als ob nichts gewesen wäre!
»Du siehst großartig aus«, fuhr er fort, als von. ihr nichts kam. David hatte sich schon immer darauf verstanden, ein Gespräch für beide Seiten zu bestreiten. »Und du hast Karriere gemacht! Das Gespenst, eine Frau? Wahnsinn. Na, ich hätte es wissen sollen. Du warst immer gut, sehr gut, in deinem Beruf. Hast echtes Talent. In vielerlei Hinsicht, wenn du mir die Bemerkung erlaubst...«
»Was willst du?«, unterbrach ihn Lea. Sie hasste es, wenn jemand um den heißen Brei herumredete. Und diese Süßholzraspelei von ihm war ihr zuwider. Ihre Hände zitterten vor Wut. Und wenn sie ihm jetzt eine runterhauen würde, mitten in sein widerliches Grinsen?
»Komm schon, Lea, du kannst mir doch unmöglich noch immer böse sein, oder? Das ist doch alles Schnee von gestern!« David strich mit einem Finger über ihre nackte Schulter. Lea würgte es beinahe vor Abscheu. »Und wenn ich sehe, was meine kleine Berührung auslöst, Lea-Schatz, würde ich behaupten, da ist noch was zwischen uns. Hättest du nicht Lust, unsere Bekanntschaft wieder aufzufrischen? Ich schon.«
Leas Hände ballten sich zu Fäusten. Sie wollte gerade ausholen und ihm eine reinhauen, als ihr Blick auf eine hübsche Blondine mit einem kleinen blonden Jungen auf dem Arm fiel. Die Frau schaute besorgt zu ihnen herüber.
Lea musterte den Jungen. Und wurde blass.
»Ist das deine Frau?«
David schaute sich um und zuckte mit den Schultern.
»Ja, das ist Diana und unser Sohn, Thomas. Ich habe ihr gesagt, sie soll ihn nicht mit hierher nehmen, aber sie hat es sich nicht ausreden lassen.«
»Thomas?«, flüsterte Lea fassungslos. Das war der Name, den sie ihrem Sohn hatte geben wollen - wenn sie und David einmal Kinder hätten. Sie hatten damals in Boston nächtelang darüber diskutiert, und er hatte den Namen immer abgelehnt. Und jetzt hatte er seinem Sohn ausgerechnet diesen Namen gegeben ...
»Ja, ein gesunder, kräftiger Junge. Aber mach dir keine Sorgen um meine Frau. Das hat doch nichts mit uns zu tun. Ich will dich, Lea.«
War so was möglich? Zwei arrogante Mistkerle an einem Abend? Einer davon hatte ihr vor sieben Jahren das Herz herausgerissen. Und der andere jetzt das, was davon noch übrig war. Und beide sagten sie genau dasselbe: Ich will dich, Lea.
Aber sie wollte sie nicht!
»Und was hält Diana davon?«
David lachte vergnügt, als habe sie einen köstlichen Witz gemacht. Seine Augen funkelten. »Ach, Diana braucht dir nicht leid zu tun. Ich habe schon was mit ihr gehabt, als wir noch verlobt waren. Du könntest es ihr also mit gleicher Münze heimzahlen. Na, wäre das nichts? Ein bisschen Rachesex?«
»David, komm näher, ich muss dir was sagen.«
Lea winkte ihn mit gekrümmtem Zeigefinger zu sich.
Wie oft hatte sie von diesem Moment geträumt. Wie oft hatte sie sich ausgemalt, was sie ihm alles an den Kopf werfen würde, wenn sie einander je wieder über den Weg liefen. Aber jetzt, wo es so weit war, wollte sie nur noch eins sagen. Ihre Lippen berührten fast sein Ohr.
»Bleib mir verdammt noch mal vom Leib«, flüsterte sie.
Zufrieden bemerkte sie, wie sein selbstgefälliges Grinsen erlosch. Sie schnappte sich ein Glas Sekt von einem vorbeigehenden Kellner, leerte es in einem Zug und ließ David stehen. Diana schaute noch immer besorgt herüber.
Lea beschloss, zu ihr hinzugehen und ihr Bescheid zu sagen. Jemand musste die Frau ja warnen, immerhin hatte sie für ein Kind zu sorgen.
»Hallo, Sie sind Diana, stimmt's?«
Diana schaute sie überrascht an, dann drückte sie der Frau, die neben ihr stand - und die Lea jetzt zum ersten Mal bemerkte - das Kind in die Hand. Das musste das Kindermädchen sein.
»Es geht um meinen Mann, oder?«, fragte Diana.
»Na ja ...« Lea schwieg unschlüssig. Was sollte sie überhaupt sagen? Dass ihr Mann ein betrügerischer Mistkerl war, musste die Frau ja wissen; immerhin hatte sie schon eine Affäre mit ihm gehabt, als er noch mit ihr, Lea, zusammen gewesen war.
»Was hat er jetzt wieder angestellt?« In Dianas Augen traten Tränen, und Lea wich erschrocken einen Schritt zurück.
»Nichts. Bitte, so weinen Sie doch nicht!«
Lea kam sich schrecklich schäbig vor, als die blonde Frau nun mit der behandschuhten Hand vor ihrem Gesicht herumwedelte, um ihre Tränen zurückzuhalten.
»Ach, bitte entschuldigen Sie! Ich geh nur rasch ...Wissen Sie vielleicht, wo hier die Damentoilette ist?«
Lea legte mitfühlend einen Arm um Davids Frau. »Warten Sie, ich komme mit Ihnen.«